Erinnern wir uns kurz: Eine junge Journalistin und ein Politiker stehen an einer Bar. Es ist der Vorabend des Dreikönigstreffens der FDP, die Stimmung ist locker, man trinkt Wein. Bald ist der Abend vergessen. Scheinbar. Ein Jahr später wirft die Stern-Journalistin Laura Himmelreich Rainer Brüderle in einem Artikel Sexismus vor. Er habe ihr an jenem Abend auf den Busen geblickt und bemerkt, dieser könne auch ein Dirndl ausfüllen. Er hat auch ihre Hand geküsst. Und beim Abschied kam sein Gesicht dem ihren unangenehm nahe.
Frauen-Versteher Osterkorn
Man hätte gerne aus Laura Himmelreichs Mund gehört, warum sie eigentlich so lange gezögert hat, ihre Brüderle-Erlebnisse niederzuschreiben, aber Laura Himmelreich wollte ihre Gründe nicht vor einer Fernsehkamera darlegen, weshalb diese Aufgabe der Chefredakteur des Stern, Thomas Osterkorn, übernahm, der die Sendezeit allerdings dazu nutze, sich als Frauen-Versteher und Sexismus-Gegner zu inszenieren.
Ansonsten waren noch Hellmuth Karasek gekommen (das Dirndl sei erfunden worden, damit man Frauen auf die Brust sehen könne), Alice Schwarzer, Silvana Koch-Mehrin, Anne Wizorek, die Initiatorin des Twitter-Hashtags #Aufschrei, und Wibke Bruhns, die einen solchen Unsinn von sich gab (Männer und Frauen sind verschiedene Spezies, jede Frau könne sich wehren, wenn ihr etwas nicht passe etc.,), dass man sich ins Jahr 1972 zurückversetzt fühlte.
Es ist Silvana Koch-Mehrin, Anne Wizorek und besonders Alice Schwarzer hoch anzurechnen, dass sie immer wieder tapfer versuchten, das Gespräch von Rainer Brüderle weg zu leiten und auf eine andere, eine wichtige Ebene zu heben: nämlich, dass über alltäglichen Sexismus (ob er nun in der U-Bahn oder im Büro geschieht) ernsthaft und sachlich diskutiert werden muss. Denn offenbar, das haben die heftigen Reaktionen der vergangenen Tage gezeigt (und das zeigt ebenso die eigene Erfahrungswelt) handelt es sich um ein Thema, das etliche Frauen umtreibt. Diese Frauen wenden sich nun von ihrer bisherigen Strategie ab, und das ist, trotz des Auslösers, gut so.
Perfide Machtausübung in Form von Sexismus
Alice Schwarzer hatte mit ihrer Feststellung recht, dass das Problem vieler junger Frauen darin bestehe, dass ihnen stets suggeriert worden sei, sie lebten in einer Welt, in der Männer und Frauen gleichberechtigt sind und Erfolg nur eine Frage des Willens und des Fleißes ist. Bis es ihnen wie Schuppen von den Augen fällt. Bis sie erkennen, dass, so formulierte es Alice Schwarzer, „diese alte Kacke immer noch dampft“. Damit meinte sie nicht brüderlehaftes Schäkern an einer Bar, sondern perfide Machtausübung in Form von Sexismus, beispielsweise, wenn es um die Verteilung von Jobs geht. Leider wollte Jauch davon nichts wissen. Er wollte lieber weiter über Brüderle und darüber reden, ob er Anne Wizorek nun eigentlich noch sagen dürfe, dass sie ein schönes Kleid trage.
Es ist zu hoffen, dass die Sexismus-Debatte mehr ist als ein Hype. Das medial Interessante ist, dass in diesem Fall offenbar viele Frauen zu Whistleblowern in eigener Sache geworden sind. Nicht alle Beobachtungen und Erfahrungen, die jetzt auf Twitter verbreitet wurden, wird jeder nachvollziehen können. In ihrer Gesamtheit aber sind sie ein Messinstrument für soziales Verhalten überhaupt. Twitter ist nur ein kleiner, keineswegs repräsentativer Ausschnitt von Stimmungslagen, und nichts verwundert an „trending topics“ so sehr wie deren Homogenität.
In dem Fall von #aufschrei aber wurde der Dienst zur fast lakonischen Dokumentation einer Persönlichkeitsverletzung, für die Laura Himmelreich und mehr noch Annett Meiritz vom „Spiegel“ nur den Auslöser lieferten. Das Ergebnis ist offen. Aber nun ist gleichsam aktenkundig, dass viele, vor allem junge Frauen, nicht bereit sind ein Selbstbild zu verinnerlichen, das sie im Job und Privatleben zu etwas anderem macht. Und das könnte dazu führen, dass der dümmste Satz des Abends endgültig Geschichte wird. Denn Männer und Frauen sind nicht verschiedene Spezies, sondern Menschen, die individuell und autonom darüber entscheiden, was man die „Integrität einer Person“ nennt und was einem kein anderer streitig machen kann: die Distanz, die man zum anderen einnehmen will.
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